Loading...

Sozialontologie

Michael Seibel • Eine Bemerkung zum Anderen und zu Technikgrenzen im Dialog   (Last Update: 13.01.2018)

Ontologie fragt nach dem Seienden als Seiendem (to on he on) (Aristoteles), nach dem Sein des Seienden (Heidegger). Was heißt es, daß etwas ist, daß es existiert? Ontologie fragt nach dem Nicht-Beliebigen solcher Setzung und als das nach den Grundstrukturen des Wirklichen und Möglichen.


Während Metaphysiken im Unterschied zu Ontologien transzendente Gegenstände wie Gott, Seele, Welt oder sonst irgend Seiendes voraussetzen, das sie als grundlegend für Sinn ansehen, und von denen aus sie Wirkliches und Mögliches denken, hintertreiben Ontologien jede solche Setzung. So ist etwa der Begriff Welt heute nach wie vor ein metaphysischer Begriff und Grundelement der Minimalmetaphysik der Naturwissenschaften, eine durch keine Erfahrung gedeckte Voraussetzung, mit dessen Hilfe technisch-empirische Messungen als Aussagen über Seiendes, über Sachverhalte in der Welt gedeutet werden.

Der Freiburger Physik-Emeritus Josef Honerkamp erzählt von zwei Diskursebenen, auf denen seiner Erfahrung nach physikalische Fragestellungen verhandelt werden, einer strukturalen, mathematischen Ebene, die prima vista ontologische Fragen gar nicht erst stellt, und einer zweiten, in der es um die Interpretation der Funde als innerweltlicher Sachverhalte geht:

„Man kann die erste Ebene auch die Ebene der (mathematischen) Relationen und Strukturen nennen, die zweite die der Substanzen. Und die Geschichte zeigt deutlich, dass man auf der strukturellen Ebene stets festeren Boden unter den Füßen hat als auf der substanziellen. Die aktuelle Forschung findet auf der strukturellen Ebene statt, auf Fachtagungen wird zunächst auf dieser Ebene diskutiert und verhandelt. Hier ist auch am ehesten Konsens zu erwarten und dieser hat sich auch stets eingestellt, wenn die Experimente eine klare Sprache sprechen. Heftige Diskussionen aber kann es dafür bei der Interpretation geben, bei der Frage, was die neu gewonnenen Einsichten über die Dinge dieser Welt und ihre Eigenschaften zu bedeuten haben. Die Diskussion um die Interpretation der Quantenmechanik ist ja heute noch im Gange.“ 1.


Erfahrung setzt Welt voraus, noch bevor sie Welt entdeckt. Ontologie sabotiert konsequent jeden Versuch, Sein von einem Entitätsinbegriff aus zu verstehen und so auch diesen. Ob die Wissenschaften etwas messen, ob alltäglich etwas als notwendig behauptet wird oder Religionen Metaphysisches offenbaren, mit der Frage, was es heißt, von etwas zu behaupten, es sei, ist Ontologie die Prüfungsinstanz für Transzendenzaussagen. Dies durchaus nicht, um dem Transzendenten seinen Sinn abzusprechen. Transzendenzprüfung ist das Kerngeschäft von Ontologie. Und Ontologie behauptet, ohne sich dessen sicher zu sein, daß solche Prüfung immer möglich ist.


Aber von je her verweisen sowohl Metaphysik als auch Ontologie zurück auf den Fragenden. Genauer müßte man wohl sagen: auf die Fragenden. Klassischerweise sind die Erkennenden Partner eines Dialogs, eines philosophischen bzw. wissenschaftlichen Dialogs, Menschen, die miteinander sprechen, die gemeinsam nachdenken. Und wahr ist das, was ihnen nach reiflicher gemeinsamer Überlegung wahr zu sein scheint.


Wer fragt da eigentlich? Chilons Forderung auf dem Delphischen Apollontempel »Erkenne dich selbst« ist die klassische Maxime der Wahrheitsfindung, und nicht nur die Maxime, sondern auch der vermutete Lohn der gedanklichen Mühe. Selbsterkenntnis ist dabei vor der Renaissance nicht Innenschau, und das Selbst und das Bewußtsein sind nicht als privatistische Erkenntnisquellen gemeint. Draußen im Transzendenten, wenn es denn erkennbar wird, zeichnen sich das Gesicht und die Signatur des Menschen ab. Der Schauplatz dieses Erscheinens ist der Dialog. Der Mensch, der sich dort abzeichnet, zeichnet sich durch den Anderen ab, d.h. dadurch, daß sich die Rede an den Anderen wendet und der Andere antwortet. Aber ist es auch der Andere, der sich zu erkennen gibt? Man hat Anlaß, die Rolle des Partners im Platonischen Dialog, mithin des Anderen, nicht all zu wichtig zu nehmen, spielt der Andere dort doch zumeist bloß den Part des Zustimmenden. Man kann bei den Platonischen Dialogen hineingreifen, wo man möchte. Die Antworten, die Theaitetos dem Fremden in Dialog Sophistes gibt, klingen so:

Theaitetos: Gut.

Theaitetos: Ja.

Theaitetos: Gar nicht anders.

Theaitetos: Ja.

Theaitetos: Nicht anders.

Theaitetos: Wie auch anders?

Theaitetos: Ganz gewiß.


Reine Akklamationen...


In Dialog Theaitetos (161e) wird von Sokrates die Leistung des Dialogs eine maieutike techne, eine Kunst der Geburtshilfe genannt. Sokrates vergleicht sich mit der Hebamme, vorgestellt als alter Frau, die selbst nicht mehr gebären kann und nun anderen beim Gebären hilft, in seinem Fall beim Gebären der Wahrheit. Dieses Bild des Unterrichts ist in der Geschichte der Pädagogik immer wieder kolportiert worden. Der Schüler selbst gebiert sein Wissen, statt ein Auswendiges mechanisch nach innen zu wenden, statt den ihm vorgesetzten Wissensstoff zu verschlingen wie eine Mahlzeit. Gedacht ist, daß die Hebamme werdende Mütter von der eigenen Geburtserfahrung profitieren läßt. Ein einseitiger Gewinn also, der ganz auf der Seite der Jugend liegt. Muß man diesen Vergleich ernst nehmen?
Indem Sokrates den Nutzen seiner Dialoge einseitig bei seinen Schüler sieht und selbst dabei keinen Erkenntnisgewinn zu haben behauptet2, weist er darauf hin, daß seine Gesprächspartner durch die Bank intellektuelle Leichtgewichte sind, deren Antworten sich auf geringwertige Affirmationen beschränken. Wenn es sich jedoch einmal nicht um geistige Leichtgewichte handelt wie im Fall des Thrasymachos, der in der Politeia den Vorteil der Starken zum Maß der Gerechtigkeit macht, eine Haltung, die bündig genug ist, um über Machiavelli bis heute überlebt zu haben, geht man sich aus dem Weg und bricht den Dialog schnell ab.

Haben seine Schüler mit ihrem dumpfen Ja überhaupt etwas 'geboren'? Der Wert solcher Zustimmung besteht nun allerdings in einer Ermächtigung.3 Sie versetzt das Vorgetragene in den Rang von Wissen. Die Affirmation durch den Anderen schlägt sozusagen die Brücke vom Sein zur Geltung, oder genauer: Geltenlassen stiftet das Sein in der Rede.


Der ontologische Status des Anderen besteht darin, die Rede gelten zu lassen, das Sein in der Sprache erscheinen zu lassen. Was, wenn Theaitetos ständig zu allem nein gesagt hätte, wenn die Argumente des Fremden von Elea keinen Bestand vor dem Anspruch des Anderen hätten? Welchen Gehaltes könnte sich der Dialog dann noch sicher sein? Es ist bis heute die Akklamation, die von Seiten der Wissenschaftsgemeinde die gelungene, die wahre Aussage unterzeichnet, noch weit monotoner als bei Platon, denn die Prüfenden sind keine Amateure oder Schüler, die berechtigt wären, sich aufgrund ihres Nichtwissens gelegentlich überfordert zu fühlen und beim Zustimmen zu zögern.


Was also, wenn Theaitetos ständig zu allem nein gesagt hätte? Im Dialog Sophistes geht es ganz zentral um möglichst sachlich stimmige Definitionen, denen der Dialogpartner zustimmen kann. Lassen wir im Augenblick offen, ob diese zwei Aspekte, Stimmigkeit in der Sache und Zustimmbarkeit für den Anderen zwei unterschiedliche Eigenschaften sind und folgen wir der gestellten Frage. Was versteht man unter einem Philosophen? Was ist im Unterschied dazu ein Sophist?

Als einfaches Beispiel, bei dem sich die richtige Methode zeigt, wie man zu einer stimmigen Definition gelangen kann, wird im Dialog Sophistes definiert, was ein Angler ist. Man trennt, teilt ein und unterscheidet und kommt vom Oberbegriff durch immer feineres Differenzieren zur gesuchten Definition. Ein Angler, das ist jemand, der eine kunstvolle (statt kunstlose), erwerbende (statt herstellende), besitzergreifende (statt einvernehmlich übergebende), nachstellende (statt kämpfende), jagende (statt sammelnde) Tätigkeit ausübt, der tagsüber (statt nachts) auf schwimmende Beute (statt auf Beute an Land) geht, die er verletzt (statt fängt) und der sich einer Angel bedient (statt einer Harpune). In analoger Weise schreitet der Definitionsversuch voran, was ein Sophist sei. Aber dieser Versuch stellt sich als schwierig heraus, denn es gibt offenbar verschiedene Unterscheidungsmöglich­keiten. Es gilt zu klären, was das wesentliche Merkmal des Sophisten ist: daß er ein Menschenfänger ist, daß er seine Weisheiten verkauft, daß er lehrt, wie man erfolgreich mit Worten selbst um Dinge streiten kann, von denen man nichts versteht? Es kommt im Dialog Sophistes zu einem Austausch über ontologische Gedankengänge, über den Unterschied von Wahrheit und Schein und als dessen Voraussetzung über den Unterschied von Sein, Nichtsein und Werden. Das alles, um am Ende bündig definieren zu können, was ein Sophist ist: kein Gott, sondern ein sich verstellender Mensch, der durch sich selbst auf kunstvolle Weise, aber ohne die nötige Sachkenntnis im kleinen Kreis trügerische Erklärungen hervorbringt. So der Fremde, und Theaitetos stimmt zu.


Der platonische Definitionsweg vom Allgemeinen hin zum Besonderen findet sich bis in die moderne synthetische Evolutionstheorie eines Biologen wie Ernst Mayr hinein.
Hätte das Delphische Orakel die Biologie nach dem Menschen gefragt, sie hätte bis vor Kurzem noch folgende Definition bekommen:
Der Mensch gehört ins Reich der vielzelligen Tiere, näher zu den Gewebetieren, darunter zu den Zweiseitentieren, in die Stammgruppe der Neumünder, zum Stamm der Chordatiere, insbesondere zu den Wirbeltieren aus der Überklasse der Kiefermäuler, in die Reihe der Landwirbeltiere, hier näher zu den Nabeltieren, aus diesen in die Klasse der Säugetiere, als das - wie auch anders - zu den höheren Säugetieren, dort wieder zu den Euarchontoglires, innerhalb deren er der Ordnung der Primaten angehört, genauer zur Unterordnung der Trockennasenaffen, von denen einige, wie auch der Mensch unter die Altweltaffen fällt, von denen nicht alle, der Mensch aber sehr wohl zur Überfamilie der Menschenartigen zählen, der Mensch natürlich zur Familie der Menschenaffen, deren eine Unterfamilie die Homininae sind. Spezifischer gehört der Mensch zum Stamm der Hominini und fällt dort in die Gattung Homo. Von diesen nun gehören die allermeisten der Art Homo sapiens an. Es sind damit Menschen.

Dieses evolutionäre Ordnungssystemen der Biologie ist in jüngster Zeit durch die Taxonomie aufgrund von DNA-Basensequenzen einigermaßen obsolet geworden.


Aber man hat es auch heute mit drei Termen zu tun, dem unerkannten Selbst, dem das Orakel die Aufgabe stellt, sich zu erkennen, der Gesprächsgegenstand, der erkannt werden soll, was bei Platon nichts anderes heißt, als richtig definiert werden und der Andere, der teilnehmen und zustimmen muß, ohne eigentlich Thema zu werden, ohne daß von ihm ein Begriff gebildet wird und der insofern unverstanden, unbegriffen bleibt.


Diese Unbegriffenheit scheint mir der entscheidende Grund zu sein, warum der Andere in Ontologien ursprünglich nicht auftaucht und sich nachträglich nur äußerst künstlich einbringen läßt. Diese Künstlichkeit zeigt sich daran, daß er in der Moderne, also seit dem 16. Jahrhundert, vor allem als eine Art Kopie des Selbst erscheint, als Fremd-Ich oder „alter ego“, als einer wie ich, nur eben doch nicht ich. Das ist die viel beklagte Gefangenschaft der Subjektivität im Privatismus ihres unmitteilbaren Bewußtseins so wie im Hegelschen Kampf um Anerkennung, der ebenfalls einen Versuch darstellt, die Ungewißheit des Anderen aus der Perspektive des Selbst heraus zu bewältigen. Sein eigenes Denken kann jeder mitteilen, und dennoch kann ich nicht fühlen, was der Andere fühlt. Er andere wird zur bloßen Vermutung oder schlimmer noch, er wird zur Fledermaus (Thomas Nagel fragte ernsthaft, um die Abgeschlossenheit des Bewußtseins zu illustrieren: Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?).4

Das ist in der Moderne das Hauptmotiv, aus dem der Andere als dritter Term ständig aus der Reihe der ontologischen Grundworte herausfällt, in die er neben Dasein und Sein gehört.5

Wie kann ich wissen, was er denkt? Da mir nur mein eigenes Bewußtsein seinen bewußten Gehalt preisgibt und der Andere nicht in der Lage ist, mir relevante Unterschiede zu mir zu nennen, und mir ständig verspricht, im Großen und Ganzen zu sein wie ich, muß der Andere wohl auch wirklich ungefähr so sein wie ich selbst. Aber das ist und bleibt ein Glaube, eine unüberschreitbare Vermutung und kein Wissen.


Weil der Andere im Dialog nicht Thema ist, weil er schadlos unbegriffen bleibt, wenn man von dem Begriff des Anderen absieht, der nichts weiter ist als eine schlechte Kopie des Selbst, wird er nicht zum Grundwort von Ontologie. Vielmehr wird das Sein Grundwort und der Andere wird zu Seiendem wie ein Schrank oder eine Fledermaus. Und das erkennende Seiende, dasjenige, dem es mit Heidegger zu reden „in seinem Sein um dieses Selbst geht“, ist das je meine Dasein und nicht der Andere. Der Andere als Anderer bleibt unbegriffen. Um das Sein als Sein hingegen ist es zu tun. Dieser Begriffsmangel läßt sich nicht ohne weiteres lösen, denn es ist keine Nachlässigkeit, kein Fehler, kein Vergessen, daß der Andere im Dialog nicht Thema, nicht begriffen wird. Je mehr der Andere verschwindet, desto grandioser, luzider und suisuffizienter steht das Wissen da. Das Vergessen des Anderen ist gerade nicht so etwas wie ein Seinsvergessen, von dem Heidegger ständig spricht, sondern ein Seinserscheinen. Je weiter sich der andere zurückzieht, umso reiner erscheint das Wissen als Wissen dessen, der es weiß.

Was also, wenn Theaitetos im Dialog Sophistes mit oder ohne Grund ständig widersprochen hätte? Man hätte abgelehnte Definitionen produziert, weiter nichts. Die ganze Argumentation des Fremden aus Elea, des fiktiven Wissenden des Dialogs, ist auf Zustimmung angelegt, die, wenn vielleicht auch nicht sofort, früher oder später erzielt werden muß. Außerhalb des Konsens ist von Erkenntnisgewinn nicht zu reden. Wie sicher könnte sich der Fremde in diesem Fall seiner Sache sein? Erkenntnisort ist eben nicht die Eremitage eines Benedikt von Nurcia, in der es mystisch hergeht. Wahrheit ist Sache des Dialogs und nicht eines Höhlenlebens. Und diese Sache kompliziert sich entschieden dadurch, daß der Dialog Sophistes fiktiv und der Fremde eine fiktive Gestalt ist, was um so erwähnenswerter ist, da gegen die Sophisten argumentiert wird, also gegen die Erfinder von Fiktionen, jene Intellektuellen, die die Wahrheit des Geldes und des Vorteils wegen verdrehen.


Aber ist da nicht etwas, das der Negation und damit dem Anspruch des Anderen widersteht, das an sich stabil genug ist? Das ist offenbar eine weitere Fassung der ontologischen Grundfrage. Ist da nicht die Sache selbst? Läßt sich nicht im Namen der Transzendenz reden?

Es muß etwas an der Rede über die besprochene Sache geben, das Bestand hat, selbst wenn die Affirmation durch den Anderen ausbleibt. Wie hat es Hannah Arendt einmal so forsch und knapp und mit einem gehörigen Schuß Selbstüberschätzung ausgedrückt: Überredung verführt, Wahrheit zwingt. Daß man den Anderen vergessen kann, wird von nun an geradezu zur Wahrheitsbedingung. Diese Haltung drückt sich etwa so aus: Ich bin von der Wahrheit meine Aussage überzeugt. Der Andere ist im Irrtum. Ich bin selbst, wenn auch nur provisorisch, die Bestätigungsinstanz, denn lange Haltbarkeit hat diese Position kaum. Sie kostet Kraft, und zwar mehr, als irgend jemand auf Dauer hat.


Die Affirmation der Rede vom Anderen her ist dennoch fundamentaler als die Negation. Natürlich kann jede Rede auf Ablehnung stoßen, sie kann überhört werden, als irrelevant oder unwahr zurückgewiesen werden. Bisweilen erfordert die in Rede stehende Sache geradezu, dem über sie Gesagten zu widersprechen. Hier decken sich die Intensionen des Vortragenden und dessen, der den Vortrag prüft.


Das setzt voraus, daß die Rede der Ort ist, an dem sich der Sachverhalt abzeichnet. Der Zuspruch des Anderen ist Bedingung jedes Sinns von Sein. Der Andere ist längst da, man muß ihn nicht auf dem modernen Umweg über die Ähnlichkeit mit sich selbst vom eigenen Dasein aus nachträglich erfinden und die Distanz zu diesem Zombi durch die Liebe schließen. Um den Anderen zu lieben gibt es wahrlich bessere Gründe als seine Gottesebenbildlichkeit, die ihm das christlich-abendländische Denken lediglich kompensativ zuspricht, nachdem es ihn verstümmelt hat. Denn das Sein, versteigen wir uns schmunzelnd in den Neologismus, von dem wir nicht wissen, ob er viel bringt, … das Sein wird immer schon vom Anderen geandert.



Nachsatz
Technik und Transzendenz


Offen war die Frage, ob es ein Residuum an Substantialität der Sache selbst gibt, aus dem sich ein Urteil über sie, es sei, was es wolle, auch dann begründen läßt, wenn der Andere seine affirmative Rolle im Diskurs – und sei es aus bösem Willen – verweigert. Kann das Subjekt gegen den Anderen auf der Wahrheit seines Urteils bestehen? Kann Wahrheit zwingen?


Es kann nicht darum gehen, der Ontologie eine Sprachphilosophie vorzuschalten und aus dem Wahren ein Problem der Bedeutung zu machen. Es versteht sich von selbst, daß es ohne die Sprache, in unserem Fall die deutsche, das Wort Sein so wenig gäbe wie die Worte Ich, Bewußtsein, Anderer oder Welt oder sonst irgendein Wort aus dem Vokabular der Metaphysik. Das ist zunächst trivial. Nicht trivial, sondern falsch scheint mir die Behauptung, daß wegen der Spachlichkeit des Denkens Prima Philosophia, Metaphysik oder Ontologie als ein besonderer Bereich der Sprachphilosophie abgehandelt werden könnte. How to do things with words, fragte John Austin als Begründer der Sprechakttheorie in den 50er Jahren. Mit Hilfe von sprachlichen Äußerungen lassen sich die verschiedensten Arten von Handlungen vollziehen, wie fragen, bitten, warnen, empfehlen, drohen und vieles mehr, aber keine Eier braten. Die meisten „Artefakte“, das meiste kunstfertig Gemachte läßt sich allein mit sprachlichen Mitteln nicht erzeugen. Technik ist der umfassendere Begriff als Sprache. Natürlich übt Sprechen auch Wirkungen aus, aber in Diskursen und nicht auf materielle Entitäten. Selbst wenn es keine Technik gibt, die nicht sprachlich beschrieben werden könnte, sind nur Sprechen im weitesten Sinn der Symbolverwendung und Schreiben sprachliche Techniken und alle anderen sind nicht-sprachliche Techniken, (angefangen beim Eier-Braten,) die es mit nichtsprachlichen, allerdings mit ontologisch höchst relevanten Entitäten zu tun haben, nämlich mit Natur oder Materie. Menschliches Verändern und Verwendbar-Machen des kontingent Vorgefundenen oder Vorgegebenen ist Ausdruck eines besonderen Vermögens, der Fähigkeit zum Herstellen. Das meint Aristoteles mit dem griechische Wort techne: eine Kunstfertigkeit des Menschen, die Beschaffenheit der Dinge absichtsvoll zu verändern. Ontologie kann sich daher nicht in Sprachphilosophie erschöpfen, weil Menschen sich der Materie mit nicht-sprachlichen Techniken nähern und sich selbst verstehen, indem sie diese verstehen. Das ist an sich sowenig ein Problem, wie es ein Problem ist, daß man mit Sprache keine Eier braten kann, denn an Techniken, Eier zu braten, ist kein Mangel. Diese Bemerkung wäre von unüberbietbarer Trivialität, wäre sie nicht die alles entscheidende Einlaßstelle für die Art und Weise, wie die empirischen Wissenschaften heute den empirischen Charakter, die Wirklichkeit ihres jeweiligen Gegenstandes feststellen. Sie nutzen ausschließlich nichtsprachliche Techniken, oder um es auf der Ebene des Diskurses zu sagen: den Anderen als Techniker, der über Daten-Macht verfügt, also über die Berechtigung und Möglichkeit, Daten zu erzeugen, die sich von den unterschiedlichen sprachlichen Techniken, nicht zuletzt der Mathematik verarbeiten lassen.

Der Unterschied zwischen sprachlichen und nichtsprachlichen Techniken ist konstitutiv dafür, was als empirisch gegeben, nämlich als nicht-sprachlich herstellbar oder, was das gleiche bedeutet, als meßbar, angesehen wird. Wie der Andere den Diskurs durch seine Zustimmung wahr macht, so liefern nicht-sprachliche Techniken, also Messungen, das, was ihn empirisch macht.

Daß es sich bei der Beglaubigung von Urteilen im Kanon empirischer Wissenschaften regelmäßig um die Grenze zwischen einer nicht-sprachlichen und einer sprachlichen Technik handelt, scheint mir zwingend für die Feststellung von Empirizität. Das heißt aber nicht, daß in anderen Formen der Beglaubigung der Grenzübergang nicht auch zwischen zwei sprachlichen Techniken verlaufen kann, wie z.B. in der gerichtlichen Praxis zwischen Gutachten und Urteil oder bei religiösen Beglaubigungen zwischen Offenbarung und Exegese. Wesentlich scheint mir zu sein, daß die Trennung zwischen zwei Techniken stabil ist. Es darf auch hier gerade keine Gemeinsamkeit mit dem Anderen geben. Auch hier muß der Andere in der Beglaubigung verschwinden, um ungetrübte Sachverhalte zurückzulassen.

Daten sind die Ergebnisse, die eine Technik erbringt, als Eingabewerte für eine andere Technik, z.B.ein Meßergebnis als Eingabewert für eine Berechnung oder eine Bibellektüre als Input einer mittelalterlichen Alegorese oder die Montage eines Gasherdes als Voraussetzung für das Braten eines Eis. Dabei stellen die Ergebnisse der ersten Technik Transzendenzen für die zweite Technik dar, d.h. sie lassen sich durch die zweite, anschließende Technik nicht erzeugen, sondern nur nutzen, z.B. interpretieren, falls es sich bei der zweiten Technik beispielsweise um Sprechen oder komplexer um eine Hermeneutik handelt. Umgekehrt lassen sie sich jedoch auch durch die erste Technik nicht interpretieren. Entscheidend ist die Trennung der Daten liefernden von der Daten verarbeitenden Technik, die insofern der Trennung von Subjekt und Anderem genau entspricht. Sie sind also von dieser zu nehmen, wie sie sind und können deshalb als Verifikatoren dienen. Falls es sich bei der zweiten Technik um ein Beweisverfahren handelt, wird zumeist damit begonnen, daß Aufhebens um die Nichtveränderbarkeit der Eingangsdaten gemacht wird. Die wesentliche Affirmation durch den Anderen besteht dann gerade in einer Bestätigung der Nichtveränderbarkeit der Daten.6 Wenn die selbe Technik die Daten erzeugt, die sie verarbeitet, sprechen wir von Kunst oder Fälschung.


Techniken weisen Übergänge zueinander auf, das ist eine ihrer wesentlichen gemeinsamen Eigenschaften.7 Und ein solcher Übergang, eine Technikgrenze besteht im Transzendentwerden von Daten. Datum ist lateinisch für das Gegebene, für das mittels einer Technik an eine andere Technik gegebene Transzendente. Auf dieser ganz allgemeinen Ebene ist selbst das Erscheinen einer Wahrnehmung im Bewußtsein ein Technikübergang. Im organischen Geschehen handelt es sich natürlich nicht um den Übergang von einer Technik (des Wahrnehmens) zu einer anderen (des Bewußtseins oder des Denkens). Es ist ein und dasselbe leiblich-seelische Geschehen, z.B. Schmerz zu spüren, Schmerzbewußtsein zu haben und sich mit dem Schrei an den Anderen zu wenden, aber wo in der Philosophie immer wieder darauf bestanden wird, daß die Anschauung einen besonderen Zugang zum Realen darstellt, auf den sich das Denken in Fragen der Wahrheit berufen könne, wie in Kants Formel, Gedanken ohne Anschauung seien leer, da behandelt man das Verhältnis von Anschauung und Denken wie einen technischen Übergang. In diesem Sinn versteht Kant nicht die Technik vom Menschen und der Kritik des menschlichen Erkenntnisvermögens her, sondern umgekehrt den Menschen durch eine stillschweigende Reflexion auf die Technik seiner Zeit. In dieser Tradition, die den Menschen als eine wie immer auch besonders komplizierte Maschine darstellt, im kompliziertesten Fall als eine Maschine mit Seele, aber eben immer noch als Maschine, oder modern ausgedrückt als eine quantenmechanisch gebrochene Kausalität, aber eben immer noch eine Kausalität, wenn auch eine statistische, steht er weder zu seiner Zeit noch heute allein.


Die Welt ist eben nicht mehr allein durch eine sprachliche Leistung, durch Lektüre im Schöpfungsbericht, im Buch der Natur verstehbar, sondern es bedarf anderer Kulturtechniken bis hin zum Large Hadron Collider am CERN.

Generell konfrontieren Techniken das Denken rund um die Frage ihres Gelingens mit Nicht-Beliebigkeiten. Die Kulturtechnik des platonischen Dialogs unterliegt dem ebenso wie die scholastische Bibellektüre, die Technik des Eierbratens oder die Kollision von Elementarteilchen im LHC. Mir scheint es angezeigt, darüber nachzudenken, wie weit folgende These trägt: Keine Wahrheit ohne den Anderen, sei es als affirmativer Dialogpartner oder als Lieferant nicht veränderbarer Daten, die nur dadurch nicht veränderbar sind, daß und insofern die Daten erzeugende und die Daten verarbeitende Technik streng voneinander getrennt sind.


Man kann sich denken, daß sie das nicht lange bleiben und daß dann die Empirizität auch wieder nur in Diskursen überlebt, in denen der Andere sie bestätigt.


Der Andere kann nur in dem Maß als Bestätigung dienen, wie er sich selbst nicht als Unterschied in den Dialog einträgt. Er würde schlicht etwas anderes sagen als Sokrates. Wenn der Andere als Anderer erscheint, bliebe dem Selbst - also im obigen Beispiel Sokrates - nur noch übrig, selbst die affirmierende Rolle zu übernehmen, um Wahrheit weiter sozial bestehen zu lassen. Alltäglich passiert genau das ständig. Nun sieht der Dialog den Theaitetos allerdings als höchst inkompetenten Gesprächspartner vor, der mit der Übernahme der Sokrates-Rolle überfordert wäre. Wer erst einmal ein Sokrates ist, dem steht der Ausweg, zum affirmativen Anderen zu werden, nicht mehr offen. Sokrates ist so ausweglos wie die Wahrheit selbst. Und in der Tat: Wahrheit kann zwingen. Vor allem Sokrates selbst. Man sieht, daß der Andere in der Tat kaum Gelegenheit hat, zusammen mit der Wahrheit zu erscheinen. Frage ist dann, warum er dann überhaupt noch als Bestätigungsinstanz gebraucht wird. Aber genau das ist für die Bestätigung charakteristisch, daß sie, indem sie sich gibt, als Notwendigkeit verschwindet. Sie scheint auf als das Überflüssige schlechthin und speist so den Überfluß, als was die wahre Rede, all die Definitionen, auf die Sokrates im Dialog kommt, zu einer Fülle des Wissens werden.




Anmerkungen:

1 Josef Honerkamp, Was können wir wissen?, Heidelberg 2012, 226 f.
Zum Thema Strukturrealismus vergleiche auch: Worrall, John: Structural Realism: the Best of Both Worlds , Dialectica, Vol. 43, 99, 1989, s. a. Eintrag Structural realism in: http://plato.stanford.edu/entries/structural-realism/

2 Radikal im Gegenteil dazu Martin Buber: „Beziehung ist Gegenseitigkeit. Mein Du wirkt an mir, wie ich an ihm wirke. Unsre Schüler bilden uns, unsre Werke bauen uns auf.“ (Martin Buber, Ich und Du, Stuttgart 1995, S. 16) Unten mehr zu Bubers dialogischem Verständnis des Anderen

3 Buber. „Wir grüßen den uns Begegnenden, indem wir ihm Gutes wünschen oder ihn unsrer Ergebenheit versichern oder ihn Gott anempfehlen. Aber wie mittelbar sind diese abgescheuerten Formeln (was ahnt man noch in »Heil!« von der ursprünglichen Machtverleihung!) gegen den ewig jungen, leiblichen Beziehungsgruß des Kaffern: »Ich sehe dich!« “ (Martin Buber, Ich und Du, S. 19)

4 Dagegen setzt sich Martin Buber ab, der den Anderen nicht als Fremd-Ich denkt, sondern in der elementaren, unmittelbar mystischen Beziehung des Ich-Du. („Dem ursprünglichen Walten des »Selbst«-Erhaltungstriebs haftet das Ichbewußtsein ebensowenig an wie dem der anderen Triebe; nicht das Ich will sich da fortpflanzen, sondern der Leib, der noch von keinem Ich weiß; nicht das Ich, sondern er will Dinge machen, Werkzeug, Spielzeug, will »Urheber« sein; und auch in der primitiven Erkenntnisfunktion ist ein cognosco ergo sum in noch so naiver Gestalt, die noch so kindliche Konzeption eines erfahrenden Subjekts unauffindbar. Das Ich tritt aus der Zerscheidung der UrerIebnisse, der vitalen Urworte Ich-wirkend-Du und Du-wirkend-Ich, nach der Substantivierung, Hypostasierung des Partizips, elementhaft hervor. Der fundamentale Unterschied zwischen den zwei Grundworten kommt in der Geistesgeschichte des Primitiven darin zutage, daß er schon in dem ursprünglichen Beziehungsereignis das Grundwort Ich-Du auf naturhafte, gleichsam vorgestaltliche Weise spricht, also ehe er sich als Ich erkannt hat, wogegen das Grundwort Ich-Es überhaupt erst durch diese Erkenntnis, durch die Ablösung des Ich möglich wird.“(Martin Buber, Ich und Du, Stuttgart 1995, S. 22))

5 Theunissen: „Es könnte durchaus sein, daß das ursprüngliche Sein des Anderen sich einst als etwas enthüllt, was weder Du noch Fremd-Ich ist. Aber in historischer Sicht, d. h. im Blick auf die gegenwärtige Situation des philosophischen Denkens, präsentieren sich nahezu alle nicht-transzendentalistischen und nicht-dialogistischen Bemühungen um eine Theorie des Anderen entweder als abkünftige Modi oder als Mischformen des Transzendentalismus und des Dialogismus. Sie werden entweder von einer der extremen Positionen getragen oder sind letztlich zwischen ihnen anzusiedeln.“ (Michael Theunissen, Der Andere, 1964, S. 3)

6 Mystik hingegen hält die am Übergang zweier Techniken entstehende Nichtveränderbarkeit für verhandelbar.

7 Z.B. ist in den empirischen Wissenschaften unverzichtbar, daß korrekt gezählt wird. Wozu gehört das Zählen? Handelt es sich um einen Teil der Messung oder bereits um einen Teil der Datenverarbeitung durch eine andere Technik? Wenn nicht klar ist, ob richtig gezählt wurde, fällt die Technikgrenze zwischen Messung und Interpretation und die Daten hören auf, auf der Ebene ihrer Interpretation irgend etwas zu beweisen, schon gar nicht die Existenz der Außenwelt. Man kann sich natürlich fragen, warum denn das Klicken in einem Zählgerät, der Schmerz im Knie, auf das ich gefallen bin oder der Blick durch ein Teleskop die Existenz der Außenwelt beweisen soll. Die knappste Antwort, die sich darauf geben läßt, scheint mir zu sein: Wegen der Unveränderbarkeit des Inputs aus einer Technik, die als Sensorium dient, durch eine Technik, die diesen Input verwendet, nutzt, interpretiert. Das hängt nicht davon ab, ob es die Außenwelt gibt oder nicht, sondern ob sich die Grenze zwischen außen und innen, zwischen der einen Technik und der anderen aufrecht erhalten läßt. Solange das so ist, ist durch den Bestand dieser Grenze die Existenz der Außenwelt technisch bewiesen.



Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de


Ihr Kommentar


Falls Sie Stellung nehmen, etwas ergänzen oder korrigieren möchten, können sie das hier gerne tun. Wir freuen uns über Ihre Nachricht.