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Mensch und Natur

Franz Rieder • Zur Etymologie des Objekts • Frei von Natur aus? • Was machte die Natur zum Objekt?   (Last Update: 22.03.2017)

Ohne eine philosophisch-anthropologische Bestimmung des Verhältnisses von Mensch und Natur, kann es keine Theorie der Realität moderner Gesellschaftsformen geben. Und bevor wir über diese Realität nachdenken, müssen wir die Bestimmungen Mensch und Natur noch näher fassen.
Eine Bestimmung der Natur, ohne die Existenz des Menschen in ihr grundlegend anzunehmen, mündet in einen transzendentalen Paralogismus, wie Kant dies nannte, oder schlicht in einer völlig leeren Vorstellung, die eine unvermeidliche, obzwar nicht unauflösliche Illusion bei sich führt, die nachzudenken sicherlich im Kontext einer psychologischen Betrachtung anzustellen nicht unergiebig wäre.

Philosophiegeschichtlich, mal abgesehen von Religionsphilosophie, ist diese Bestimmung recht gleichförmig und kaum ausdifferenziert, vergleicht man dies mit anderen, sogar teils recht nebensächlichen Begriffen. Das Verhältnis von Mensch und Natur war und ist ein Verhältnis des Gegensatzes zwischen Mensch und Natur sowie ein praktisches Verhältnis der Beherrschung der Natur durch den Menschen. Beides zusammen genommen bestimmt seit den ersten philosophisch-systematischen Schriften von Aristoteles das westliche Denken und ist zugleich dessen Phantasma1. Der Begriff des Phantasmas bezieht sich im wesentlichen auf den Bereich unseres Denkens, der die Vorstellung von der menschlichen Beherrschung der Natur begründet.

Bevor Aristoteles Natur als das bestimmte, was die Bestimmung und den Zweck des Seienden trägt, Natur damit auf das Seiende als gewissermaßen die Einzeldinge applizierte, wurde in der griechischen Philosophie Natur vor allem bei Platon, den Stoikern und dann den Neuplatonikern bezogen auf den Gedanken der Wohlgeordnetheit der Einzeldinge, also der Welt als Ganzes.
Natur ( altgr. φύσις, physis) und Weltganzes waren untrennbar aufeinander bezogen, Natur und Kosmos (altgr. κόσμος, kosmos = Kosmos) eins.

Erst nach deren Trennung durch Aristoteles war es möglich, als da nun die Einzeldinge in den Blick gerieten, diesen selbst auch eine innewohnende Kraft (Dynamis, Energeia) und damit verbundenen eine eigene Bewegung zuzuweisen. Schwerer als das wiegt sogar noch, dass der Natur der Dinge, ihrem Wesen und innerem Prinzip nun auch noch ein Ort mit assoziiert wurde: „Leichtes“ steigt nach oben, „Schweres“ sinkt nach unten2.

Mit der Zuweisung eines Ortes war die Grundlage geschaffen, das Seiende aus dem Blickwinkel von Identität zu betrachten, genauer gesagt, die Natur aus dieser Perspektive zu beobachten. Wenn etwas hier und an einem anderen Ort identisch ist, scheint Identität auch eine Eigenschaft des Seienden zu sein. Ebenso verhält es sich mit der Nicht-Identität bzw. der Verschiedenheit als Eigenschaft des Seienden.
Sahen die materialistischen Vorgänger des Aristoteles noch in allem Seienden stets Mischungsverhältnisse und waren für sie die verschiedenen Aggregatzustände des Seienden Veränderungen der Mischungen, so indiziert Aristoteles Identität als etwas Beständiges. Er fragt nicht, ob und womit „Leichtes“ sich vermischt, gar zu einem neuen Stoff wird, sondern nach dessen Identität in Raum und Zeit. Wie eben gesagt, hier sehen wir die Grundlagen geschaffen für die Frage nach dem, was bleibt. Der Fragende selbst ist hier noch nicht eigenes angesprochen. Aber von nun „badete man doch zweimal im gleichen Fluss“.3

Im Zuge dieser Qualifizierung des Seienden als Selbst-Seiendes in Raum und Zeit, also von nun klar als sinnlich erfass- bzw. beobachtbares Seiendes wird gleichzeitig noch eine weitere Grundlage gelegt, die aber erst viel später von systematischer Relevanz werden sollte, nämlich die Grundlage, dass wir vom Seienden als von einem „Objekt“ sprechen können.


Zur Etymologie des Objekts.


Blicken wir kurz auf die Geschichte des Wortes: Objekt, dann dürfen wir festhalten, dass seine Bedeutung (es gibt mehrere) mit dem wissenschaftlichen (technischen) Gebrauch des griechischen Wortes hypokeimenon zusammenhängt. Im antiken Griechenland bedeutete „Objekt“ bzw. hypokeimenon seltsamerweise gerade soviel wie heute unser Wort Gegenstand. Gegenstand stand – und dies ist wörtlich gemeint sogar als subjectum: Stand – für Gegenstand einer Untersuchung, lat. argumentum. Aristoteles verwendet den Begriff Objekt im Sinne des hypokeimenon dann häufig in der Bedeutung von dem, was zugrunde liegt.

Erinnern wir die wichtigsten Lehnübersetzungen des Wortes, dann finden wir im Lateinischen, vorherrschend in der Zeit des Mittelalters, das Wort subjectum. Über das subjectum, abgesehen von der ursprünglichen Bedeutung des Adj. subjectus (wovon das franz. sujet; untertan, unterworfen, eine weitere Lehnübersetzung darstellt), entbrannte schnell ein Streit über die Bedeutung, vor allem geführt durch Augustinus, der die Lehnübersetzungen mit den zunehmend weniger gebräuchlichen griechischen konterkarierte.

Im Griechischen selbst standen sich – wie wir bereits ausführlich dargelegt haben – die Worte ousia und hypokeimenon begrifflich sehr nahe. Ousia wurde später mit essentia übersetzt, hypokeimenon also mit subjectum, aber auch mit substantia. Augustinus insistierte nicht unbegründet auf die Bedeutung als Essenz, nicht als Substanz. Ihm ging es natürlich um „Gott“, den Augustinus keinesfalls als eine Substanz, wenn schon, dann als eine Essenz apostrophiert wissen wollte.

Geht man mehr ins Detail wird man sehen, dass der mittelalterliche Sprachgebrauch ziemlich genau das subjektiv nannte, was wir heute objektiv nennen. Und dabei stand Aristoteles einmal mehr Pate, wurde offenbar Metaphysik von Rhetorik bzw. Grammatik neu und maßgeblich beeinflußt. Denn fortan subjektiv war, was einem Subjekt zugesprochen wurde und wir sind uns durchaus der Wortwahl hier bewusst und behaupten auch, dass dem so sei, dass Subjekt und Objekt je das bedeutet, was wir beiden zusprechen und nicht etwas Festes, zeitlos und in der Sache Identisches.

Subjekt bezeichnete bald das, wovon etwas prädiziert wurde, also sehr oft einen konkreten Gegenstand, bald das Wesentliche des Gegenstandes, die Ousia, das Hypokeimenon.
Objektiv war dagegen, nach der damaligen Psychologie und dem lateinischen Wortlaut, was an den Vorstellungen vom Denken verursacht war und dies bedeutet heute eben subjektiv.

Kein Geringerer als Kant und damit das Denken in Deutschland an der Wende des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts müssen dies bezüglich als die Triebfedern der Umdeutung der beiden Begriffe genannt werden. Objektiv und real werden von nun an fast gleich bedeutend. Und in der Sprache Kants ist das scholastische subjectum bereits so völlig verloren gegangen, daß er es an der Stelle nicht mehr verwendet, wo es im antiken Griechenland seinen ureigensten Platz hatte.

Kant nutzte die Kraft des wissenschaftlichen Vorschubs, den Aristoteles in das philosophische Denken eingeführt hatte und bei Kant ist dann die Welt des Seienden objektiv geworden. Doch unter dieser objektiven Welt der Gegenstände und des sinnlich Erfahrbaren legte Kant gleichsam als Grabbeigabe des Hypokeimenon das subjectum und nennt es das Ding-an-sich, den Gegenstand an sich.

Wir werden später sehen, vielleicht sogar eine Antwort finden auf die Frage: warum hat Kant diese Umdeutung des Hypokeimenon so leidenschaftlich und systematisch betrieben und an den  alten scholastischen Begriffe nicht festgehalten? Wir hätten anstelle des Ding-an-sich dann das Subjekt-an-sich vorgefunden, was aber beileibe keine bedeutungslose Vertauschung meint. Denn auf dieser Umdeutung basiert nicht weniger als Kants fataler Fehler im System des deutschen Idealismus, dass nämlich erst von der menschlichen Vernunft verursacht werde, was alle Vorstellungen des Menschen verursacht: die Ausdehnung des Kausalitätsbegriffs auf das Ding-an-sich.

So unterlief dem großen Mann aus Königsberg, dessen gewaltiges Werk uns und wohl noch vielen Generationen Ehrfurcht und Mühe en masse abverlangt, das Faszinosum des durch Leibniz vollendeten Gedankens der Kausalität – und mithin all der syllogistischen Argumentationsweisen – des Aristoteles und damit der Entwurf eines philosophischen Mammutwerkes, das derart in sich begründet ist, dass es keinen Gegenentwurf mehr zulassen kann. Richtig, wenn später zum Deutschen Idealismus vermerkt wurde, dass er nicht in Teilen, sondern nur als Ganzes falsch ist.

Kant wäre in Gefahr gewesen, in die geistreiche Konsequenz seines Schülers Fichte zu verfallen, hätte er auf das Ding-an-sich verzichtet. Fichte war Idealist und kein Materialist, genau so wie sein Mentor Kant, und so folgte er auch dem Gedanken, dass im Bereich der erscheinenden Welt, wie er die materielle Welt in Anlehnung an den griechischen Vordenker Aristoteles nannte, alles unter Gesetzen der Kausalität steht. Als konsequenter Denker der Freiheit des Denkens war Fichte aber der Ansicht, dass freie, sittlich relevante Handlungen mit den Naturgesetzen brechen müssen. Aber wie soll das möglich sein, was niemand auch nur als theoretische Möglichkeit überhaupt einsehen, geschweige denn damals als „machbar“ sich vorstellen konnte?

Haben wir also einerseits zwei Kausalitäten, nämlich eine empirische in der Welt der Erscheinungen und eine im Denken (eine selbstbestimmende Kausalität des absoluten Ich, die keine Leistung des empirischen Ich ist), wenn wir ein Ding-an-sich annehmen, so haben wir zwei Freiheiten, die des empirischen Ich und die des absoluten Ich, wenn wir auf das Ding-an-sich verzichten würden.
Aber nur die Annahme eines höchsten Prinzips, welches jede Empirie übersteigt und das auf Evidenz beruht, was nichts anderes heißt, als dass es schlechterdings für jeden einleuchtend ist und mithin nicht sinnvoll bezweifelt werden kann, gewährt Wahrheit, insofern wir unsere Wahrheitsansprüche, also den Anspruch darauf, dass unsere Meinungen, Überzeugungen etc. wahr sind, auch begründen können. Und dieses Prinzip erkannte Fichte in dem sich selbst setzenden Ich, das kein empirisches Ich attribuiert, aber das Prinzip Subjektivität meint. Wir werden in einem späteren Kapitel auf diesen subjektiven Fundamentalismus von Fichte zurückkommen.


Frei von Natur aus?


Die Beziehung von Mensch und Natur ist philosophisch gesehen schwierig. Das mögen auch viele Menschen, ohne philosophisch kundig zu sein, genau so sehen. Nun kann man aber dieses schwierige Verhältnis nicht aus der Erfahrung eines einzelnen Menschen verstehen. Denn jeder ist nun mal anders und wird diese Schwierigkeit auch anders sehen.

Deshalb haben wir auch darauf verwiesen, dass wir hierbei nicht an ein empirisches Ich, einen empirischen Menschen denken, gleichwohl jeder von uns ein gerütteltes Maß dieser Schwierigkeiten ausbadet. In der Arbeit, im Alltag, in seiner Freizeit. Beim Essen und Trinken, während eines Spaziergangs im Wald, beim Baden, solange das überhaupt noch geht.

Wir haben eben gesehen, dass von Aristoteles bis zu Kant und Fichte die Vorstellung sich entwickelt hat, dass Wahrheit, also nicht irgendeine persönliche Meinung, fundamental an ein Prinzip gebunden ist, das schlicht und ergreifend den Satz: der Mensch ist frei zur Voraussetzung hat. Das war nach den Jahren, in denen alle Wahrheit in Gott und bei dessen irdischen Vertreter in Kirche und Staat lag, nicht einfach zu denken und auch nicht risikolos in manchen Fällen.

Der Satz: Gott ist tot und damit der Verlust einer transzendenten Wahrheit, die dann auch nach der Französischen Revolution die von Gott verliehene Macht der Aristokratie betraf, wurden also gewissermaßen im damaligen Deutschland auf systematische Weise ausgesprochen. Und fortan konnte natürlich auch kein anderer lebender oder verstorbener Mensch die Rechtsnachfolge Gottes oder von Kaiser und Gefolge antreten. Deren „Rechtsnachfolger“ war nicht das empirische Ich, sondern das Prinzip Subjektivität.

Schauen wir in die Mitte des letzten Jahrhunderts, dann finden wir dort, dargelegt und ausgebreitet von Jürgen Habermas den neuen Rechtsnachfolger der „tranzendentalen Subjektivität“ von Kant, Hegel und Fichte, nämlich das Prinzip der apriorischen Intersubjektivität.4

Das Prinzip der apriorischen Intersubjektivität meint, dass wir über das Gespräch mit anderen
Subjekten zur Begründung der Gültigkeit unserer Überzeugung kommen und dass das vorgängig und unabhängig vor jedem einzelnen Menschen als Prinzip von Intersubjektivität schon Bestand hat. Oft wird dieses Prinzip der wechselseitigen Anerkennung auf Hegel und das berühmte Kapitel: Herrschaft und Knechtschaft in der Phänomenologie des Geistes zurückgeführt, wo es aber ganz im Sinne der Erkenntnistheorie des deutschen Idealismus veranschlagt ist.

Wir meinen, es ist begründet bei Fichte und verweisen dort darauf, dass Fichte nicht das Individuum bzw. die Interaktion aller Individuen dabei im Auge hatte, sondern dass nach ihm – wie wir eben sahen – nur ein absolutes, kein empirisches Ich der Vergeber von Wahrheitsansprüchen ist.
So würde Fichte auch den Gedanken von Habermas als „unbegründet“ abweisen, da wir, bevor wir überhaupt in Gesprächen zur Begründung der Gültigkeit von Wahrheitsansprüchen kommen können, zuvor Subjektivität anerkannt bzw. erfahren haben müssen, da wir sonst nicht einmal andere Menschen, bei Fichte Subjekte, als andere Subjekte (an)erkennen können.

Das klingt, wie vieles aus der Literatur des Deutschen Idealismus schwierig bis geheimnisvoll und teils sprachlich unzugänglich, ist aber bei näherer Hinsicht nicht gar so schwer, beschränkt man sich auf das wesentliche.

Was hier zur Debatte steht ist die Frage: bietet Habermas mit seinem Prinzip der apriorischen Intersubjektivität einen „Fortschritt“ zu Fichtes Prinzip neuzeitlicher Subjektivität? Die meisten von uns würden schnell antworten: na klar. Ich erlebe doch tagtäglich, was Habermas beschreibt. Und was Kant und Fichte schreiben, erlebe ich nicht, weil ich es noch nicht einmal im Ansatz verstehe.
Es scheint doch geradezu evident zu sein, dass wir heute Wahrheit im Rahmen von Diskursen gleichsam aushandeln wie Preise für Ledertaschen im Großen Basar von Istanbul.

Aber wie es hier im ehemaligen Byzanz nicht klar ist, ob das, was da wie hochwertiges Leder bzw. ein Markenartikel aussieht, auch einer ist, so sind wir auch nicht sicher, ob es bei allen Diskursen über Meinungen und Überzeugungen auch tatsächlich um so etwas wie Wahrheit geht? Selbst wenn sich zwei oder mehrere geeinigt haben am Ende auf eine „Sache“, ein Argument, dann muss nicht unbedingt schon gleich von einer Wahrheit gesprochen werden.

Die „Sache“ ist natürlich schwierig und komplex und wir werden ihr deshalb ein eigenes Kapitel zum Selbstbewusstsein widmen. An dieser Stelle, wo es um die Beziehung zwischen Mensch und Natur in ganz fundamentaler Absicht gehen soll, muss zur Voraussetzung einer sinnvollen Weiterarbeit natürlich ganz grundsätzlich die Frage beantwortet werden, wie der Mensch seinen Bezug zur Natur grundsätzlich definiert. Genauer gesagt, wie die Philosophie dieses Verhältnis bestimmt und woraus diese Bestimmungen bestehen?


Was machte die Natur zum Objekt?


Wir haben gesehen, wie aus dem griechischen Ousia und Hypokeimenon im Nachgang des Neuplatonismus, des Mittelalters und dann bei Kant der Begriff „Objekt“ entstanden ist. Und das die Veränderung einer glatten Vertauschung gleichkommt. Aus der Vertauschung der beiden Begriffe subjektiv und objektiv kam aber auch die Schwierigkeit, ein gutes deutsches Wort für Gegenstand im Sinne des Wortes Sache zu erfinden.

Alte Lehnübersetzungen benutzten dafür den Begriff Subjectum, neuere schon den Begriff Objekt. Aber die ursprünglichen Bedeutungen von Objekt als „Gegenentwurf“ bzw. „Widerwurf“ sowie die Bedeutung des Begriffs „Subjekt“ mit „Unterwurf“ waren ungeeignet, das worauf es fortan ankam zu leisten, nämlich eine „Kausalargumentation“.

Meister Eckhart, der Mystiker und Philosoph, benutzte schon den Begriff Wesen im Sinne von „Stand“, wir sagen von an sich selbststehende bzw. stehende Wesen, gleichbedeutend mit etwas, was identisch ist in Raum und Zeit und setzte diesen ein für den Begriff Substanz(en), der fortan zum wesentlichen Begriff für Identität im Rahmen einer Kausalargumentation avancierte.
Eckhart zählt viele Stellen in seinem Werk, an denen der Wechsel zu einer Kausalargumentation vorgestellt wird, prägnant und der Einfachheit halber, sei auf die Stelle verwiesen, wo es um die „Geburten“ geht5.

Eckhart argumentiert, dass Geburten schlichtweg überall stattfinden, diese aber nicht wie ein isoliertes Seiendes betrachtet werden dürfen, sondern in einer engen, dauerhaften Verbindung zu Mutter und Vater stehen, weshalb sie zu Recht als Nachkommen bezeichnet werden könnten. Damit gilt gleichzeitig die Herkunft als eine Art Genealogie, die Beziehung zwischen Eltern und Kind als eine Kausalkette, was in der Welt des Mittelalters vorher so eher weniger gesehen wurde. Den Kindern hat es geholfen, denn nun waren Eltern substanziell für ihre Nachkommen verantwortlich (und durch weitere Gesetze wurde auch die Erbfolge primär familienintern geregelt).

Das Subjectum war endgültig zur Substanz geworden (zu einem fixen Objekt, einem Datum etc.) und in einem Kausalsystem bzw. einer Kausalargumentation konnte es keinen „Gegenentwurf“ immanent geben. Das Wort Gegenentwurf war in der Sprache der Mystiker und Theologen durch Jahrhunderte ein ganz geläufiges Wort, ist der heutigen Gemeinsprache wenn nicht unverständlich geworden, so doch ein Wort, dass einen Standpunkt bzw. ein Argument bezeichnet, welcher gänzlich außerhalb einer konsistenten Weltordnung sich befindet.
Historisch verschwand seine Bedeutung gerade um die Zeit, da die Vertauschung der Begriffe subjektiv und objektiv in Deutschland erfolgte. Man nahm es zunehmend, wieder ein Fall von gelehrter Volksetymologie, als Übersetzung von objection, von antikeimenon anstatt von hypokeimenon, und weil da die Worte Einwurf oder Widerspruch schon zur Verfügung standen, so musste das Wort Gegenentwurf bedeutungslos werden. Einwurf und Widerspruch lassen sich einer Kausalargumentation mühelos subsumieren, Gegenentwurf widerstrebt dem nachhaltig.

In die historisch gleiche Zeit fällt ein weiterer Bedeutungswandel, der des Wortes Gegenstand. War seine Bedeutung Widerstand, ein Entgegenstehen bzw. ein Gegensatz, so veränderte sich diese hin zu einem technischen Ausdruck der Erkenntnistheorie, zu Objekt und in der deutschen Gemeinsprache zu Ding oder Sache. In wie weit seine Bedeutung ursprünglich einmal auf den Begriff Obstantia zurück ging ist unklar, mithin nebensächlich. Wichtiger bleibt, dass Objekte von Subjekten erzeugt werden, seinen diese nun geistiger oder materieller Natur.Tatsächlich wird die Unterscheidung von geistiger und materieller Natur mehr und mehr zur Antinomie im erkenntnistheoretischen Sinne.

Hat die Kausalargumentation die „Dinge“ unlösbar in der Zeit mit dem Subjekt, gedacht als geistiger Erzeuger verkettet, so haben wir fortan das „Ding“ in zweifacher Weise. In Immanuel Kants Transzendentalphilosophie sind Objekte die durch Kategorien geordneten sinnlichen Eindrücke, also sind Objekte diejenigen Erscheinungen, früher das sinnlich erfahrbare Seiende, denen eine empirische Realität zukommt. Sie sind jedoch transzendental ideal nicht identisch mit dem Ding an sich, also vom Ding an sich zu trennen und damit – wie dies Aristoteles ontologisch auch Platon vorwarf – zweimal vorhanden bzw. in einem zweifachen Sein gegeben: „Objekt aber ist das, in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist.“6

Berkeley, ein skeptischer Idealist, schreibt: „The ideas imprinted on the senses by the author of nature are called real things.“7. Und so drücken wir dem „Ding“ alle Eigenschaften auf, von denen wir meinen, dass sie dazu gehören und glauben letztlich, dass es natürliche Eigenschaften sind, die den Dingen anhaften. Leicht geht von den Lippen: ‚das schöne Ding‘ für ein junges, hübsches Mädchen, oder das ‚Objekt der Begierde‘ für eine sinnlich attraktive Frau. Aber was heißt denn schönes Ding, was ist ein Objekt der Begierde an sich? Haben wir damit ein Objekt begriffen? Haben wir unsere Attributionen begriffen?

Alle diese und viele weitere Fragen zusammengenommen konzentrieren sich in einer: Was heisst, ein Objekt begreifen? Und wie dieser ontologische Status des Gedachten bzw. des Ding-Bewusstein denn nun sei? Ein Objekt begreifen, ein Ding anschauen sei der Bedeutung nach eine ähnliche, geistige Leistung wie einen Brief schreiben oder ein Haus bauen. Aber was bedeutet denn ein Ausdruck wie: ich grabe eine Grube, ich sehe eine Farbe, ein Hammer ist das Ding zum hämmern? Man könnte auf die Idee kommen, man habe es bei diesen Sätzen mit einer ontologischen Grunddifferenzierung zu tun in Hinsicht der bereits in der Scholastik gebräuchlichen Unterscheidung des intentionalen Objekts, bei dem absichtlich einmal nach der Richtung der Aufmerksamkeit zu einem Objekt (Substantiv) oder zu einer Tätigkeit des Subjekts (Verbum) unterschieden wird.

So wäre es die Absicht selbst, also eine geistige Leistung, die letztendlich die unzähligen Differenziale einer Handlung integriert und konstitutiv nach zwei (es gehen natürlich heute auch mehr) Richtungen unterscheidet, die der Sache, dem Ding selbst aber keineswegs inhärent sind.
Inhärent ist diesem Denken aber die Tautologie: eine Farbe ist zum sehen, ein Hammer zum hämmern, eine Grube gegraben. Und wie immer ist es auch hier mit den Tautologien, dass in ihr die Dinge zweimal vorkommen. Es gibt sie zweimal, wie Georg Christoph Lichtenberg schon aufzeigte, als er fragte: Was ist außen? Was sind Gegenstände praeter nos? Was will die Präposition praeter sagen?

„Wie sollten wir nun über Dinge außer uns urtheilen können?Aber es ist nun so unsere löbliche Mode. Wir werden verschiedene Gegenstände gewahr, und setzen dieselben sogleich außer-halb uns. Das mechante extra nos! Wir sollten eigentlich nur sagen praeter nos, oder es ist was ich nicht bin. Aber wir setzen es sogleich in den Raum hinaus. – Leibniz definirte den Raum durch ordo simultaneorum. Aber damit kommt man hier nicht aus.“8
Und weiter: „Ist es nicht sonderbar, daß der Mensch absolut etwas zweimal haben will, wo er an einem genug hätte und notwendig genug haben muß, weil es von unseren Vorstellungen zu den Ursachen keine Brücke gibt?“


Wer war das und wann hat das angefangen?


Das schöne Ding als Bezeichnung für ein junges Mädchen, die schönen Dinger für viele junge Mädchen, wie wäre dann der Begriff für alle schönen Mädchen? Die schönen Dinger? Es gäbe sie dann mal wieder zweimal, einmal als Besonderung des Allgemeinen und als Allgemeines selbst.

Lichtenberg hätte in seiner meist wohltuend witzigen Art dazu gesagt: „Wer einen Engel sucht und nur auf die Flügel schaut, könnte eine Gans nach Hause bringen.“9

Aber hinter all dem Witz stecken doch einige der elementarsten philosophischen Fragestellungen seit dem Mittelalter. Wir erinnern in diesem Zusammenhang nur an das Kapitel zum Universalienstreit, in das die Frage nach dem Allgemeinen, Besonderen und Individuellen gehört.

Diese Unterscheidungen, die im Umfeld von Ontologie bzw. Metaphysik erscheinen, betreffen neben ontologischen auch Fragen der allgemeinen Logik. Ihre Herkunft geht zurück auf die Frage der Qudditas, der Washeit, (abstrahierende Substantivierung von dem Interrogativpronomen quid? („was?“) und betrifft ontologisch was auf die Frage: Was ist (dieses Ding)…? geantwortet werden kann. Wie die Frage: Was ist der Mensch? ebenso alt wie fundamental ist in der Philosophie wie die Frage: Was ist Gott? geht die erste wohl noch leicht von den Lippen, die zweite macht da schon einiges Unbehagen, sowohl sprachkritisch gesehen wie auch für alle Menschen, die an Gott glauben, die Frage so wohl nicht stellen würden.
Würden wir fragen: Was ist die Idee von Gott? wären wir die Assoziation zu Gott als ein Ding, einer Sache los und hätten auch den Sinn der Denker im antiken Griechenland eher getroffen. Denn die alten Griechen kannten bis Aristoteles weder das Individuelle noch dessen logische Ableitung aus einem Besonderen bzw. Allgemeinen.

Das Individuelle wurde erst so richtig in die Philosophie eingeführt in der Scholastik mit dem Begriff Haecceitas (neulat., zu lat. haec: „dieses“), was so viel wie ‚Dieses-Sein‘ oder ‚Diesheit‘ bezeichnet. Gehört der Begriff Washeit und die Frage nach dem was etwas sei (quod quid est, „das, was etwas ist“) zu den Ursprungsfragen der Philosophie (Metaphysik), so unterliegt der Haecceitas keine Frage, sondern ein philosophischer Kunstgriff, zu versuchen die Probleme zu lösen, die ihren Ursprung bei Aristoteles und in der Folge von Thomas von Aquin haben. Sie beide vertraten die Auffassung, dass das Individuelle als Spezialfall des Allgemeinen, als ein „Mangel“ des noch-nicht Begründeten angesehen wurde.

Bezeichnet (Logik) die Haecceitas das Spezifische eines einzelnen Objekts, im Gegensatz zur Quidditas, also den allgemeinen Eigenschaften einer Objektklasse, so gehörte die Haecceitas in den Bereich der Individuation und wurde als Sonderung des Allgemeinen in ein Einzelnes gedacht. Sonderung (nicht Besonderung) deshalb, weil das Einzelne selbst nicht wissenschaftlich diskutierbar10 (Individuum est ineffabile) ist. Dieser philosophische Kunstgriff wurde schon im 13. Jh. von Johannes Duns Scotus vorgetragen und ist im wesentlichen eine Lehre, die auf der Vorstellung beruht, dass die individuelle Existenz nicht ein Mangel, sondern eine Vollkommenheit sei. Wie anders hätte man denn die Existenz Gottes auch beschreiben können. Hieraus wurde aber ganz generell die Lehre, dass jede individuelle Existenz etwas Einmaliges und in diesem Sinne Besonderes sei.

Auf das Individuum kann man als etwas Einzigartiges nur zeigend hinweisen: ein „Dies-Da“11. Logische Kausalkettenargumentationen scheinen hier nicht weiter zu führen, eben so wenig wie wissenschaftliche Diskurse. Hier liegt auch der Anfang eines Denkens, das wie das von Wittgenstein davon ausgeht, dass alles ist, was der Fall ist; wir kommen darauf zurück.

War das Einzelne, das Individuelle in der Logik und in der Philosophie ontologisch als zweitrangig eingestuft, sollte es durch die Einführung der Haecceitas und seiner Bestimmung als ein positives, an und für sich suffizientes Sein auch einen, gegenüber dem bisherigen, subsidiären Sein höheren ontologischen Grad erhalten.

Dem Einzelding als einem positiven Sein wird nunmehr begrifflich erkennbar ein höherer Rang zuerkannt. Zudem avanciert das Individuelle, das Besondere gegenüber dem Allgemeinen zum Vollkommenen. Das Individuelle, eingeschlossen auch das Individuum, besitzt in dieser Denktradition eine selbständige Realität, ist eine weiter nicht ableitbare Tatsache.
Wir erinnern daran, dass diese Denktradition auf der erkenntnistheoretischen These beruht, als unsere Begriffe, also die zu Begriffen versammelten intellektuellen Anschauungen prinzipiell nur Allgemeines erfassen können und prinzipiell keine konkreten Einzelgegenstände, wie wir das am Beispiel der Begriffe „Mensch“ und „Sokrates“ aus dem Denken des Aristoteles als deutera ousia (zweite Substanz) im Kapitel: Was uns bewegt – Von Platon zu Aristoteles – bereits entfaltet haben.



Anmerkungen:

1 Arthur Schopenhauer definiert das Phantasma als "nicht unmittelbar durch Eindruck auf die Sinne hervorgerufene, daher auch nicht zum Komplex der Erfahrung gehörige Vorstellung" (Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde 1813, § 28)

2 Anton Hügli, Poul Lübke (Hrsg.): Philosophielexikon. Reinbek bei Hamburg 1997, S. 444f.

3 Dass damit auch gleichzeitig die sinnliche Wahrnehmung hypostasiert wurde, mag man leicht daran erkennen, dass, wenn jemand z.B. radioaktive Substanzen in den Fluss leitet, man zwar durchaus von außen gesehen derselbe ist, der dort mal wieder badet, dessen Zukunft aber fortan wohl etwas strahlender sein dürfte, als zuvor.

4 Die Beutung des Wortes: apriori sei an dieser Stelle nur in seinem ganz allgemeinen Gebrauch von 'im Vorhinein, von vornherein' und nicht im Sinne der Erkenntnistheorie als: 'unabhängig von jeder Erfahrung und Wahrnehmung; rein mit der Vernunft durch logisches Denken erschließbar' hier veranschlagt.

5 Vgl. „Allen Kreaturen eignet es zu gebären. Eine Kreatur, die keine Geburt kennt, wäre auch nicht.“ (Meister Eckhart: Werke I, Predigten, Texte und Übersetzung von Josef Quint, hg.und kommentiert von Nikolaus Largier, Frankfurt/Main 1993, S.461)

6 I.Kant, Kritik der reinen Vernunft, B137

7 Princ. 33.

8 Gottlieb Gamauf: »Erinnerungen aus Lichtenbergs Vorlesungen«. Die Nachschrift eines Hörers. Band 2, Teil I: Allgemeine Untersuchungen über die Körper überhaupt, Seite 33

9 Lichtenberg, Aphorismen

10 Expositio in 4 libros Met. Arist. 1 meteor 1a; vgl. W. Janke: Artikel Individuum, in: Theologische Realenzyklopädie Bd. 16, S. 117.

11 Axel Schmid: Natur und Geheimnis: Kritik des Naturalismus durch moderne Physik und scotische Metaphysik. München: Alber, 2003, hier S.268



Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de



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